Der Zahn der Zeit nagt bekanntlich ja ordentlich am eigenen Erinnerungsvermögen. So manche banale Alltagsbegebenheit verwandelt sich im Lauf der Jahrzehnte in ein nostalgisch verklärtes Lebenshighlight. Ich würde gerne behaupten, dass der Schulsegelkurs damals in der 10. Schulstufe dazugehört. Tut er aber leider nicht. Auch nach 25 Jahren ist selbst die Erinnerung daran genauso wenig glamourös und Lorbeerkranz-umwunden wie der tatsächliche Sachverhalt.
Der warme Wind im wallenden Haar, Salz auf der Haut, der Bug tanzt über die Wellen während die Sonnenstrahlen auf der Meeresoberfläche glitzern und die Delphine springen… Davon träumten vier pubertierende 16-jährige als sie in den späten Neunzigerjahren optimistisch für die Schulsportwoche die Option „Segeln“ ankreuzten. Die Realität sah anders aus: Nebelverhangene Berge, kaltes Seewasser und die paar Zander waren zum Delphin-gleichen, malerischen Springen aus dem aus mangelndem Sonnenlicht nur stumpf daliegenden See nicht zu bewegen. Die dürftige Wettervorhersage wurde trotzdem eindeutig überstrahlt von der Motivation der kleinen Schülergruppe. Erwartungsvoll schritten also vier junge Mädchen in warmen Kapuzenpullovern den Steg entlang, mit mitleidig überheblichem Blick auf die bedauernswerten Kreaturen namens Klassenkollegen, die „Surfen“ gewählt hatten und sich nun bei Wassertemperaturen um die 18 Grad und kaum höheren Lufttemperaturen in nasskalte, muffige Leih-Neoprenanzüge zwängten. In ihrer Vorstellung wartete der schnittige Rumpf eines hochmodernen Segelbootes auf die Mädchen, silbrig-elegant, und daneben der gutaussehende, junge Segellehrer im hellen Poloshirt mit von der Sonne gebleichtem Haar, frechem Grinsen, cooler Sonnenbrille und gebräunten Armen.
Der Realitätsschock war hart und traf die Mädchen unvorbereitet. Anstelle eines schnittigen „Tornados“ in edlem Silberdesign wartete eine winzige, rote Nussschale am Steg vertaut. Das kleine Boot sah in den Augen der Teenager reichlich mitgenommen aus, die Farbe blätterte an einigen Stellen ab und die aufgemalte Nummer „84“ in schwarzer Farbe konnte das Gesamtbild auch nicht retten. Dazu kam noch das obligate, quietschgelbe Ölzeug, das selbst die Langbeinigste, Attraktivste der vier in einen misslungenen Gartenzwerg verwandelte. Zumindest sah der junge Segellehrer einigermaßen vielversprechend aus, wenngleich sein demotiviert gelangweilter Gesichtsausdruck klar machte, dass er das Unterrichten von halbwüchsigen Anfängerinnen eindeutig als Bestrafung betrachtete und er nur mehr die letzten Tage der Sommersaison im schlechter werdenden Herbstwetter absaß, bevor er nach einer kurzen Urlaubspause als Schilehrer für die Wintersaison in die Tiroler Berge übersiedeln würde.
Dass es eine Bootsklasse namens „Optimist“ gibt, sagt eigentlich schon alles. Die kleine, rote Jolle war eigentlich ein Zweimann-Boot, doch wie das bei Schulkursen mal so üblich ist, wurden die Boote Vierergruppen zugewiesen. Mal abgesehen davon, dass die Schulsportwoche ein Paradebeispiel davon werden sollte, wie Sportsgeist, Teamgeist und Kameradschaft großartig scheitern können, dauerte es keine ganze Woche bis zur folgenden Erkenntnis: Auf einem Zweimannboot sind der Dritte und der Vierte zwei Mann zu viel. Und das gilt auch für Frauen.
Zwei Tage lang herrschte totale Flaute. Und das durchaus auch im wörtlichen Sinn. Wäre der Segellehrer nicht ausreichend cool und attraktiv gewesen, hätte spätestens am zweiten Tag Rebellion – um nicht zu sagen Meuterei – geherrscht. Denn der junge Mann drückte den Mädchen tatsächlich zwei Ruder in die Hand und – wir ruderten. Mit Todesverachtung wurde aus Ermangelung von Wind das Segelboot hin und her gerudert, neben uns die Surfer, die wackelig auf ihren Brettern immer wieder versuchten, ihre Segel hochzuziehen. Glauben Sie mir: Das Manöver „An der Boje anlegen“ kann tagesfüllend sein. Zwei von uns ruderten, eine saß am Steuer während die vierte am Bug kauerte und mit dem Tau die Boje zu erwischen versuchte. Ich weiß nicht, ob wir überdurchschnittlich untalentiert waren, aber selbst bei absoluter Windstille kann man die Boje vorbeirudernd verfehlen. Ersparen Sie sich (und mir) die Schilderung der peinlichen Details.
Am dritten Tag frischte der Wind unvermutet und böig auf. Boot Nummer 84 war den Anforderungen nicht gewachsen – vier Kapitäne und keine Besatzung führten dazu, dass wir seitlich ins Schilf getrieben wurden und uns der Segelschulinhaber kopfschüttelnd mit dem Motorboot aus unserer misslichen Lage befreien musste. Die Schadenfreude seitens unserer surfenden Kollegen begleitete uns fortan auf Schritt und Tritt. Immerhin standen die Surfer am dritten Tag schon einigermaßen wackelig auf ihren Brettern, während wir zielsicher am Steg entlanggetrieben waren und zwar nicht ganz ohne Rettungsversuche aber doch auf verlorenem Posten versucht hatten, nicht im Schilf zu landen.
An jenen Herbsttagen in den 90er Jahren wurde das Prinzip „Klassengemeinschaft“ ordentlich auf die Probe gestellt. Zwischen Seglern und Surfern entbrannte bald ein regelrechter Klassenkampf und nach kaum drei Tagen am Mondsee wurden erbitterte Kämpfe um die Ausweich- und Vorrangregeln zu Wasser geführt. Ein Surfkollege legte es stets drauf an, in dem er im letzten Moment ins Wasser sprang, damit vom Surfer zum Schwimmer wurde und uns quasi die Vorfahrt nahm. Das ging solange, bis sich eines Tages eine der vier Mädels ohne Vorwarnung aus dem Ölzeug schälte, sich den Pullover über den Kopf zog, aus den Schuhen und den Jeans schlüpfte und sich mit einem missmutig gebrummten „der kann mich mal mit seinen Vorfahrtsregeln“ in die kühlen Fluten stürzte. An diesem Tag musste uns der surfende Kollege ausweichen und der kleine Sieg wurde an Bord gefeiert als hätten wir eine Regatta gewonnen.
Apropos Regatta. Der Schulsegelkurs wurde mit einem Wettrennen beendet. Zwei weitere Tage hatten wir damit verbracht, bei absoluter Windstille durch die Gegend zu rudern und an diversen Bojen an- und abzulegen. Das Anlegemanöver beherrschte unsere vierköpfige Besatzung also perfekt. Leider frischte am letzten Kurstag der Wind auf einmal auf und als wir uns morgens um 10 Uhr zur Regatta bereit machten, wehte eine respektable Brise über den See. Kampfeslustig setzten wir das Segel, bereit, jetzt endlich wie ein Pfeil übers Wasser zu schießen um dem mürrischen Segellehrer ein zufriedenes Grinsen zu entlocken und vielleicht ein Lächeln, von dem wir das halbe Schuljahr würden leben können, wenn wir wieder über unsere Latein- und Mathematikbücher gebeugt von Abenteuer und Freiheit träumen würden. Der Regatta-Start verhieß nichts Gutes. Wir waren mit dem Bug eindeutig über der Startlinie und kassierten gleich mal eine Strafrunde. Das tat dem Teamgeist ordentlich Abbruch und die Strafrunde wurde begleitet von Anschuldigungen in alle Richtungen. „Wir sitzen doch alle in einem Boot,“ versuchte es eine der vier beschwichtigend, doch das konnte die Stimmung an Bord nicht mehr retten. Boot Nummer 84 schipperte als eines der letzten über die Ziellinie, die Kameradschaft an Bord war dahin und die Anschuldigungen der Crewmitglieder untereinander hallten noch eine Weile über den See. Als uns der „Grundschein Segeln“ trotzdem feierlich in die Hand gedrückt wurde, war die Stimmung immer noch gedämpft, der Wind zerrte an unseren Haaren und Boot Nummer 84 lag zumindest ordnungsgemäß festgezurrt – wo sonst – an seiner Boje.
Wäre ich noch mal sechzehn, würde ich es diesmal anders machen. So wie Greta Thunberg. Mir einen feschen Skipper mit Verbindung ins monegassische Königshaus suchen und die Navigation sowie das Segelsetzen einem deutschen Profisegler überlassen. Und dann möchte ich sehen, ob der Glorienschein um diese Erinnerung verblasst.
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