„Luftschiffe“

Die Nachricht ging durch alle Medien: Lufthansa (und auch andere Airlines) belegen bis auf weiteres aus Sicherheitsgründen die letzte Reihe ihres Airbus A320-neo nicht mehr. Wie ehrenwert, dass die großen Fluglinien, die besagten Flugzeugtyp in ihrem Fuhrpark haben, die Sicherheitswarnungen so ernst nehmen. Dennoch – Sind wir die einzigen, die nachgerechnet haben?

Wie wichtig die Gewichtsverteilung beim Segeln ist weiß jeder. Aus eigener Erfahrung. Oder auch aus dem Fernsehen. Es leuchtet ein, dass in Relation zur Gewicht eines Segelboots die Kilos der Crew durchaus – verzeihen Sie das Wortspiel – ins Gewicht fallen. Und eindrucksvoll hängt dann die Besatzung gesichert über die Reling, das Boot im Wind ausbalancierend. Alles für die Geschwindigkeitsoptimierung. Gischt unter dem Hintern, Fahrtwind im Gesicht, die Haare zerzaust, die Urgewalt des Wassers sich direkt auf die Wirbelsäule übertragend, wenn das Boot über die Wellen schießt.

Und jetzt stelle ich mir das gleiche gerade bei einem Flugzeug vor. Vielleicht Chuck-Norris-gleich auf der Tragfläche stehend. Durchgefroren von der Höhenluft und die vom 980 km/h-Fahrtwind verwehten Haare zu Eis erstarrt. Müssen Sie auch schmunzeln? Fakt ist, dass die Sicherheitsbedenken aufgrund von Simulatoren-Tests entstanden und für Manöver gelten, die hoffentlich im Ernstfall nie vorkommen. Ein extremes Durchstartmanöver nach einem abgebrochenen Landeversuch zum Beispiel. Als Folge der Simulationen wurde die Anweisung erteilt, die letzte Reihe des besagten Flugzeugtyps leer zu belassen, um den Schwerpunkt der Maschine geringfügig nach vorne zu verlegen. Und da setzt bei mir das Stirnrunzeln ein. Lassen Sie sich das vorrechnen:

Ein Airbus A320-neo darf beim Abheben laut Hersteller ein maximales Gewicht von 79 Tonnen haben. Sechs Sitze befinden sich in der letzten Reihe. Nehmen wir ein Durchschnittsgewicht von 80 Kilo pro Passagier an, so kommen wir auf 480 kg oder knapp eine halbe Tonne. Die fehlenden Passagiere machen also etwa 0,6 Prozent des Gesamtgewichts des Flugzeuges aus. 0,6 Prozent. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich liebe Mathematik und ihre Präzision und verstehe durchaus, dass das trotz der kleinen Zahl ein großer Prozentsatz sein kann. Doch im Umkehrschluss muss ich davon ausgehen dass auch der Fall dass 6 oder mehr Passagiere gleichzeitig während des Fluges ihren Sitz verlassen, zumindest minimale Auswirkungen auf den Schwerpunkt und somit die Fluglage eines Flugzeugs hat. Und was ist mit Flugzeugen geringeren Gewichts und weniger Simulatoren-Tests und dadurch fehlenden Informationen? Eine CRJ200 beispielsweise darf mit etwa 24 Tonnen starten – bleibt die letzte Sitzreihe (4 Sitzplätze) leer, wäre das in unserem Rechenbeispiel der doppelte Anteil am Gesamtgewicht, nämlich 1,3 Prozent. Ist das doppelt so gefährlich? Oder ist das eine Milchmädchenrechnung? Und das derzeit größte Passagierflugzeug der Welt, der A380? Mit einem maximalen Startgewicht von 569 Tonnen? Wie viele Sitzreihen muss man da freilassen? Ach, lassen wir das.

Gewiefte Mathematiker werden jetzt (zu Recht) kontern, dass sich die Bewegungen der einzelnen Passagiere im Mittel aufheben und es höchst unwahrscheinlich ist, dass die vordersten (oder die letzten) zwei oder drei Flugzeugreihen gleichzeitig aufstehen um nach vorne bzw. nach hinten zu rennen. Ingenieure werden zu Recht entgegnen, dass die Sicherheitsbedenken nur für einen bestimmten Triebwerkstyp gelten. Vielflieger kontern vielleicht, dass sich vorne sowieso die Business Class Sitze befinden und wer will da schon aufstehen und in die Holzklasse nach hinten gehen, wenn er so bequem sitzt. Pragmatiker mögen entgegnen, dass im Falle riskanter Flugphasen die „Anschnallen“-Zeichen aufleuchten. Und das ist genau das, was mich tröstet. Sollte ausgerechnet die Maschine, auf der ich mich gerade befinde, in Not geraten und das Gewicht ein paar einzelner Menschen quasi das Zünglein an der Waage darstellen, dann ist mir sicher nicht nach spontanem Aufstehen und Herumspazieren. Im Gegenteil. Ich werde mit vor Angst geweiteten Augen die Sauerstoffmaske fest in mein Gesicht drücken und mich im Geiste bei jedem Leser entschuldigen, den ich je mit langatmigen Texten gelangweilt haben sollte.

Worüber sich die Quellen ausschweigen bzw. maximal ein paar Andeutungen liefern ist die Frage, was denn genau passiert, wenn man im A320-neo die letzte Sitzreihe NICHT freilässt. Wenn Sie mich also demnächst in der kleinen und vollbesetzten DHC-8 (Maximales Startgewicht nur 16 Tonnen! Rechnen Sie mal nach!) von Innsbruck nach Frankfurt auf der vordersten Sitzkante gekauert sehen, die Lehne des Vordersitzes fest umklammernd und die Reichweite des Sitzgurtes damit aufs äußerste strapazierend, dann wissen Sie: Ich mache das nur wegen der Schwerpunktverlagerung. Zur Sicherheit.

Fotos:
Catamaran by Brett Jordan – Unsplash
Graphik Rechnen by geralt – Pixabay
Wing by Romain Mathon – Unsplash