Selten ist man dafür so gelobt worden wie jetzt, ein richtiger „couch potato“ zu sein. „Stay home – stay safe.“ Doch wohin mit der Reiselust, dem Bedürfnis die Welt zu erkunden, dem Wunsch, Meeresspiegel und Himmel am Horizont verschmelzen zu sehen – und das nicht nur mit dem Finger auf der Landkarte?
Der Begriff „Corona-Krise“ hat definitiv das Zeug zum „Unwort des Jahres“. Wer sehnt sich nicht nach der Normalität zurück, die man vor der Pandemie als selbstverständlich betrachtete? Dazu gehört in erster Linie auch die Bewegungs- und Reisefreiheit, unter deren Einschränkungen wir alle mehr oder weniger leiden. Der eine vermisst die wöchentlichen Besuche bei den Großeltern, den Cappuccino mit der Freundin oder das Bier mit den Kollegen, der andere muss auf seinen herbeigesehnten Urlaub verzichten oder gar die Reise seines Lebens auf unbekannte Zeit vertagen.
Auf Reisen zu gehen, exotische Fremde zu erforschen, unbekanntes Terrain zu erkunden und neuen Menschen zu begegnen gehört zu den menschlichen Urbedürfnissen und ist wohl ein genetisches Relikt aus unserer Geschichte als Wanderer und Nomaden. Doch selbst als uns Wetterumschwünge, der Wandel der Jahreszeiten und Ressourcenknappheit nicht mehr dazu brachten, rastlos über die Erde zu streichen, so entschieden wir uns doch nur bis zu einem gewissen Grad für die Sesshaftigkeit. Über Jahrhunderte verband man Reisen mit Bildung, mit einer sprichwörtlichen – und wörtlichen! – Erweiterung des Horizonts, egal ob es die Wanderjahre eines Gesellen, die Studienreisen eines Jungstudenten oder die ersten „Geschäftsreisen“ waren. Goethe, Mozart, Humboldt – die Liste jener, die reisten, nicht weil sie es mussten, sondern weil sie es wollten, ist lang. Wer es sich leisten konnte, ging auf Reisen. Das bedeutete bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein nicht nur einen bedeutenden finanziellen Aufwand sondern erhebliche zeitliche Ressourcen. „Der Weg ist das Ziel“ war wohl ein Euphemismus für die Tatsache, dass Reisen per Postkutsche, Zug oder Schiff langwierig, nicht selten beschwerlich und auch gefährlich waren.
Einfach in den Flieger zu steigen und nur wenig später in einer völlig anderen Zeitzone, anderen Klimazone und mit kulturellem Kontrastprogramm auszusteigen ist ein Privileg der letzten Jahrzehnte, das inzwischen weitaus mehr Menschen als nur ein paar gutsituierten Adligen oder wagemutigen Weltenbummlern zugänglich ist. Ist Reisen zu einfach geworden? Schließlich hat auch das Coronavirus (wie viele andere Viren vor ihm und es zweifelsohne noch viele Viren nach ihm tun werden) nichts anderes getan, als quasi ein Flugzeug zu besteigen und sich so binnen kürzester Zeit auf der ganzen Welt zu verbreiten. Und genau hier muss das Umdenken stattfinden.
Wieso Reisen neu überdacht werden muss, dafür könnte man viele Gründe angeben. Ressourcenknappheit, carbon footprint, Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz sind nur einige von ihnen. Ich spreche auch nicht davon, die Reisefreiheit langfristig mit politischen Mitteln oder wirtschaftlichem Druck einzuschränken. Ein Umdenken muss bei jedem Einzelnen von uns stattfinden. Zu reisen ist ein Privileg. Reisen darf kein Fastfood-Produkt sein, das man beliebig oft konsumiert. Zu einer Reise gehört die Vorbereitung und die Nachbereitung, nicht nur das „Heute-Dubai-morgen-Paris“-Jetset-Gehabe nach dem Motto: Wer die meisten Flugmeilen in der kürzesten Zeit sammelt, hat gewonnen. Was ist mit der Vorfreude, dem ausgiebigen Recherchieren, Bücher wälzen, Travel Blogs lesen, ja, auch dem Geldsparen auf die Herzensdestination geworden? Gehört das Fotobuchgestalten danach, die Erinnerung an die Urlaubserlebnisse bei einem guten Glas Wein und das Erzählen von Reiseanekdoten nicht genau so dazu wie das Reisen selbst?
In Zeiten von massiven Einschränkungen der individuellen Bewegungsfreiheit haben wir die Chance, das Privileg, überhaupt reisen zu können, neu zu bewerten und zu überdenken. Es wird eine Zeit „nach Corona“ geben. Wie wollen wir dann auf Reisen gehen? Ausgehungert und sehnsüchtig? Definitiv. Überstürzt, wahllos und nach dem Motto „Mehr ist mehr“? Hoffentlich nicht. Jetzt ist die Zeit, seine ganz persönliche Travel Bucket List zu erstellen. Sich wirklich Gedanken zu machen, wohin man gerne möchte, wenn Reisen keine Selbstverständlichkeit ist.
Hätten Sie mich vor einigen Monaten nach meiner Reise-Wunschliste gefragt, ich hätte Ihnen etwa fünfzig Destinationen aufzählen können. Heute sind es genau drei Reiseziele. Drei, an denen mein absolutes Herzblut hängt. Was aus den anderen 47 geworden ist? Auch dorthin reise ich. Genau jetzt. Auf meiner Couch. Umgeben von einem Berg von Reiseführern und Bildbänden, einigen Reisemagazinen, einem Atlas (ja ich bin ein wenig retro), mit meinem Laptop auf den Knien und mindestens zehn geöffneten Browser-Fenstern von namhaften Travel-Blogs. Ich mache gerade einen auf Huckepack-Tourist. Mit dem Finger auf der Landkarte. Als Couch Potato. Auf dem Regal gegenüber steht ein grinsendes Sparschwein. Meine drei „Bucket List“-Destinationen sind nämlich nicht gerade billig. Aber wenn ich irgendwann in der Zukunft dorthin reisen werde, dann mit Genuss, Zeit und einer dank Corona-Krise neu gewonnenen Dankbarkeit.
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